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Die wundersame Gallenblase von Einsiedeln
Ein 68-jähriger Mann kommt mit Oberbauchschmerzen und Schüttelfrost/Fieber in die Notaufnahme. Entzündungskonstellation (Leucos 11.3, CRP 68.1mg/l) und Cholestase (Billi gesamt/direkt 83.7/62.8µmol/l) deuten auf eine Cholangitis. Sonographisch imponiert die Gallenblase eher klein mit schattengebenden Konkrementen im Fundus, normaler Wand und normkalibrigem Ductus choledochus. Das MRCP bestätigt mehrere kleine Choledochuskonkremente ohne Obstruktion (Abb.1). Der Therapiealgorithmus ist klar: systemische Antibiose, therapeutische ERCP, die den Ductus cysticus verschlossen zeigt, Papillotomie, Steinextraktion und Stenteinlage. Nach Ausschluss einer post-ERCT-Pankreatitis wird am Folgetag die laparoskopische Cholecystektomie durchgeführt (Abb.2). Beschwerdefrei wird der Patient drei Tage später unter oraler Antibiose entlassen. Die rückläufigen, wenn auch noch nicht normalen Laborwerte werden hausärztlich kontrolliert. Die Stent-Extraktion ist in sechs Wochen geplant.
MR T2 coronar und MRCP
Untersuchung durch RODIAG Diagnostic Centers, Einsiedeln
Gallenblase aufgeschnitten ex tabula
Soweit ist der Verlauf schlüssig. Verwunderung bereitet allein die Anamnese, denn 26 Jahre zuvor wurde die Gallenblase bereits laparoskopisch entfernt – was der vom Hausarzt glücklicherweise aufgehobene Op-Bericht ganz eindeutig beschreibt. Was hat es auf sich mit der wundersamen Neoblase?
Ist die Gallenblase etwa aus dem hepatischen Wundbett nachgewachsen? Nein, ein solch Wunderding erlaubt die Embryologie nicht. Schon eher, wenn auch sehr selten (1:4000) gestattet sie eine Doppel-Gallenblase, eine Vesica fellea divisa (ein Ductus cysticus) oder duplex (zwei getrennte Ductus cystici) (1). Diese Situation liegt in unserem Fall aber gar nicht vor, denn die postoperativen Verwachsungen finden sich bei der anspruchsvollen laparoskopischen Komplettierungs-Cholecystektomie eher zum Leberrand hin und nicht im Leberhilus. Somit ist die wundersame Gallenblase das Resultat einer operativen Fehleinschätzung und ganz weit weg von einem chirurgischen Wunder. Man muss zur Erklärung den historischen Rückblick bemühen, um zu verstehen, dass das Jahr 1994 noch in der Lernphase der Laparoskopie lag, in der es weder optimale Instrumente gab noch ausreichend Expertise vorhanden war. Der vermeintlich ligierte Ductus cysticus wurde damals offensichtlich mit dem schlanken Corpus der Gallenblase verwechselt, was in einer Partitio chirurgica resultierte - wen wundert’s.
Die intentionelle Gallenblasen-Teilresektion gehört tatsächlich zum chirurgischen Reserve-Armamentarium für spezielle, unübersichtliche Operations-Situationen (2), in die der Autor wunderbarerweise bisher noch nicht geraten war.
Weiterführende Literatur
Boyden EA. The accessory gall bladder-an embryological and comparative study of biliary vesicles occurring in man and domestic mammals. Am J Anat. 1926;38:177–231
Elshaer M et al. Subtotal cholecystectomy for "difficult gallbladders": systematic review and meta-analysis. JAMA Surg. 2015;150:159-68

Prof. Dr. med. Dr. h.c.
NORBERT RUNKEL
Chefarzt Chirurgie,
Leiter der Klinik für Chirurgie,
Facharzt FMH für Chirurgie, speziell Viszeralchirurgie und Intensivmedizin
AMEOS Spital Einsiedeln
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